Ralf Gnosa freier Schriftsteller und Literaturwissenschaftler


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Ludwig Tügel: Der Wiedergänger



Ludwig Tügel:

Der Wiedergänger.

Roman

Frankfurt a.M.: Rütten & Loening 1929, 368 S.



Ludwig Tügel (1889 Hamburg – 1972 Ludwigsburg) – kennt und liest ihn eigentlich noch jemand? – gehört zu den bedeutendsten und eigenartigsten deutschsprachigen Erzählern der Jahrhundertmitte. Hin und wieder klingt ein Ton bei ihm an, den man erst bei Hans Erich Nossack (1901-1977) findet. Ich kenne keinen Autor sonst, der diesen Ton präfigurieren würde. Schon damit ist ein Niveau gesetzt, das wohl zu erreichen ist, aber nur sehr schwer zu überbieten sein dürfte. Wir sind ganz oben.
Tügel wurde in Hamburg als Sohn eines Generaldirektors einer rheinischen Bergwerksgesellschaft geboren und wuchs daher zeitweilig in Stolberg bei Aachen, nach dem frühen Tod des Vaters 1904 wieder in Hamburg auf. Seine drei jüngeren Brüder waren allesamt auch „von Bedeutung“: Franz Tügel (1888-1946) als Theologe und evangelischer Landesbischof, Tetjus Tügel (1892-1973) als Maler und Schriftsteller, Hans Tügel (1894-1984) schließlich als Verlagsmitarbeiter, Schauspieler und Regisseur. Ludwig Tügel verließ die Schule vor dem Abitur und übte – unterbrochen durch den Ersten Weltkrieg - über zwanzig Berufe aus, vorwiegend in Norddeutschland, bis er sich schließlich 1928 als freier Schriftsteller in Ludwigsburg niederließ, wo er bis zu seinem Tode lebte und schrieb.
Detaillierteres über ihn ist schwer zu erfahren, weiterführende Sekundärliteratur über ihn gibt es offenbar nicht. (N.B.: Ein Wikipedia-Artikel existiert zwar, den verfaßt zu haben ich mich in Grund und Boden schämen würde – so wird das ganz sicher nichts mit der vielgepriesenen „Schwarmintelligenz“: da urteilt jemand in denunziatorischem Ton ab, hat offenbar nichts bis fast nichts selbst gelesen, über das Werk erfährt man daher auch nichts; dafür wird ein Artikel von Manfred Hausmann über Tügels Vortrag auf dem Weimarer Dichtertreffen 1940 aus dem „Reich“ genutzt, um einmal „Goebbels!“ raunen zu können – ja, ich weiß, daß es gerade sehr trendy ist, auf Hausmann einzudreschen; aber es ist in der Einseitigkeit ebenso idiotisch wie trendy – statt den ja veröffentlichten Vortrag selbst zu lesen, zu referieren und zu bewerten. Dazu kommt etwas Lexikonwissen aus einem DDR-Lexikon, das deutlich wohlwollender mit dem bösen Herrn Tügel umgeht. Es wirkt in summa dümmlich, könnte aber ebenso bösartig sein… vielleicht ist es aber auch einfach nur die übliche Mixtur aus Selbstgerechtigkeit und Hirn- und Herzensfaulheit…).
Tügel ist immerhin eine der wesentlichen Stimmen des magischen Realismus in Deutschland. Traurig genug, daß heute viele nicht einmal wissen, daß es so etwas in Deutschland überhaupt gibt. Nun, wir sind eben keine Kulturnation. Erzählungen wie „Die Treue“ (1932 u.ö.; zuletzt 1986 neu hrsg. mit Nachwort von Thomas B. Schumann), „Die See mit ihren langen Armen“ (1940), „Der Kauz“ (1942), „König Lear auf der Mole“ oder „Die Ohnseitige“ (1943/44; beide veröff. in der Sammlung „Das alte Pulverfass“ 1948) u.v.a. sind Meisterwerke; und seine „Thüme-Trilogie“ („Pferdemusik“ 1935 u.ö.; „Die Charoniade oder Auf dem Strom des Lebens“ 1950, neu 1961 unter dem Untertitel; „Ein ewiges Feuer“ 1963; ein 4. Teil liegt unveröffentlicht im Nachlaß) findet kaum einen Vergleich. Man mag an Horst Lange (1904-1971) oder George Emanuel Saiko (1892-1962) denken, aber deren magischer Realismus ist anders; man mag an Nossack denken, aber nur passagenweise; man mag vielleicht auch an Gustav Hillard (1881-1972) denken, aber der stellt wohl eher ein großbürgerlich-patrizisch-wilhelminisches Pendant zu Tügel dar. Tügel ist hier magischer Realist völlig eigener Prägung.
Begonnen hat er freilich stark expressionistisch und dies merkt man seinem Roman „Der Wiedergänger“ (1929) auch noch deutlich an, den man als Brückenwerk zwischen dem expressionistischen Früh- und magisch-realistischen Hauptwerk betrachten kann. Im Stil bebt noch Expressionistisches nach, er ist gedrängt, bisweilen fast gehetzt, abgehackt, zugleich klingt aber bereits manchmal die spätere Tonlage an, etwa in der Fährhaus-Episode (einer solchen, freilich noch um ein Vielfaches intensivierten, begegnet der Leser übrigens später in der „Charoniade“ (1950), S. 148-190, wieder). Stilistisch allerdings ist Tügel hier deutlich reifer als im oft noch recht unausgegorenen Frühwerk - z.B. „Kolmar“ (1922).
„Der Wiedergänger“ ist ein heilloses Buch. Es steckt viel darin, es ist ein Liebesroman, ein Zeit- und Gesellschaftsroman, aber auch phantastische Elemente klingen immer wieder an, die vielen Werken Tügels einen dunklen Untergrund, einen oft irritierenden, verstörenden Hallraum geben.
Am Beginn steht das Ehepaar Zamell in der Kleinstadt Lammsdorf, das sich - nolens volens - permanent wechselseitig quält und miß- oder nicht versteht. Erich Zamell, den idealistisch ausgerichteten Mann, treibt dies schließlich in den Selbstmord. Seine Frau Elisabeth bleibt orientierungslos zurück und führt ein oberflächliches Leben, das stark in Hilflosigkeit gründet und bringt – eine verspätete femme fatale der Jahrhundertwende? – so manchem Unglück und Verderben. Hier kommt nun der „Wiedergänger“ ins Spiel, Richard Tommsen, eine zerrissene, dämonische und gleichfalls durchaus zerstörerische Figur. Tügel liebt, wie es scheint, diesen Typus. Nach einer verqueren Liaison mit einer viel älteren Frau stürzt er, der Architekt ist, von einem Gerüst und wacht als ein Anderer wieder auf, als „Wiedergänger“ des toten Erich Zamell, als „Schabeu“ (ein mir völlig unbekanntes Wort – wer kennt es? Hinweise werden dankbar entgegen genommen…).
Tommsen beendet sein bisheriges Leben, irrt durch die Lande und trifft in Lammsdorf zufällig-schicksalhaft eben zum Zeitpunkt des Todes und der Beerdigung Erich Zamells ein. Auch Friedrich Zurnieden, ein Freund und Kriegskamerad Zamells, ist dort und war indirekt Zeuge des Selbstmordes, die einzige Hauptfigur dieses Buches, die nicht völlig zerrissen ist. Dieser verlobt sich später mit Elisabeth und heiratet sie auch, doch diese Ehe ist zum Scheitern verurteilt und er nimmt freiwillig die Scheidung als schuldiger Teil auf sich. Dieser Friedrich ist durchaus eine positivere, gefestigtere und solidere Figur; noch „Friedensware“ gewissermaßen, wenn auch nicht ohne Bruch: denn auch er bleibt nicht unberührt vom unheilvollen Totentanz und – er kann sich in diesem letztlich nicht behaupten. Vielleicht als einzige Figur verliert er nicht seine Würde. Das aber hilft ihm auch nichts. Positiv erscheint am Rande das alte Prokuristenehepaar aus Zamells Fabrik, Nebenfiguren, die auch zeitlich „am Rande“ stehen, nicht dazugehören. Der Totentanz der Gegenwart irritiert sie, sie verstehen ihn nicht, aber er erfaßt sie nicht mehr, sie leben konsequent in ihrer alten (hier definitiv: besseren!) Welt, Muster für die Gegenwart können sie so jedoch nicht sein, nur ein Kontrastmittel. Für die Jüngeren gibt es keinen Weg zurück in eine heile oder zumindest heilere Welt.
Denn alle stehen in diesem Roman tief im Chaos, das sie herumwirbelt und mißhandelt und die meisten tun alles, um diese Mißhandlungen zu verstärken, zu vergrößern. Immer wieder greift das Schicksal in dieses Chaos ein, aber dieses Schicksal ist hier keineswegs eine ordnende Macht, schon gar nicht eine heilende, viel eher scheint es höhnisch, zynisch, gibt dem quälenden Chaos neue Anstöße, verwirrt und verletzt die Menschen noch mehr. Die Parzen sind Erinyen geworden.
Die Menschen, die in diesem Wirbel gepeinigt und umhergeworfen werden, sind alle totunglücklich und quälen sich gegenseitig stets noch mehr. Sie sind keineswegs schlecht oder böse im landläufigen Sinn. Sie können nur nichts Anderes… Das Gute – sei es auch gewollt und im Kerne vorhanden – liegt einfach nicht in ihren Möglichkeiten. Und so sind sie ebensowenig gut wie schlecht.
Daraus entsteht ein Totentanz unter Lebenden und einem Toten, dem sich bald ein zweiter hinzugesellt, die faszinierende Episodenfigur des „Alleinstehenden“, den – nolens volens – Elisabeth und Richard in den Selbstmord treiben. Auch die Toten durchdringen das Leben dieser Menschen, mal mehr, mal weniger, nie aber heilsam im Sinne liebender Erinnerung, stillen Gedenkens etc. – vielmehr führen sie zu Verdoppelungen und Spaltungen der Persönlichkeiten.
Die Toten wurden von den Lebenden verletzt; nun verletzen sie über ihren Tod hinaus die Lebenden.
Dieses Buch schont seinen Leser nicht. Es liest sich keineswegs leicht. Denn es tut weh. Es greift einen an, es schmerzt.
Tügel ist schonungsloser Chronist seiner Zeit, er schildert die zerstörte Gesellschaft der Nachkriegszeit im kleinstädtischen oder ländlichen Mikrokosmos und an einzelnen Charakteren, er schildert die Verheerungen, die Krieg und Nachkrieg angerichtet haben, bis hinein in die individuell-menschlichen Verhältnisse. Alles ist zerstört und nichts in Ordnung, seien es die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse oder das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Und niemand ist diesen Verhältnissen gewachsen, niemand findet sich zurecht. Es ist auffällig, wie häufig Worte wie „kaputt“, „zerbrochen“, „verloren“, „zerschellt“ usw. vorkommen, Seelen sind „verwundet“, Nerven „kaputt“ – das ist die Situation, das ist das Vakuum, woraus die linken und rechten Totalitarismen erwachsen sind, das ist in Deutschland die Situation am Vorabend des Dritten Reiches, bei Tügel paradiert gewissermaßen die „deutsche lost generation“ (beiseitegesprochen: übrigens nicht eben unaktuell in einer Zeit, in der im Reichstag wie schon 1933 wieder einmal ein deutsches Parlament sich willig selbst entmachtet…). Einmal heißt es: „Es ist ein Übel vom Kriege her.“
Ja, immer wieder greift hier der Krieg als Erinnerung in die Gegenwart ein. – Das ist wohl Tügels Lebensthema: der grüblerische Einzelne in einer heillos zerstörten Welt, vom Krieg aus der Bahn geworfen, der ins Vergangene nicht zurück kann und auch nicht will, der sich mit dem Ist-Zustand quälen muß. Paul Alverdes (1897-1979), der selbst zu diesem Thema dichterisch etwas zu sagen hatte (s. besonders seine Erzählung „Das Zwiegesicht“ (1937), nannte es „ein großes Thema der Nachkriegszeit“, das Tügel „angeschlagen und mit Meisterschaft durchgeführt“ habe: „Ehre und Leiden derer, die nicht heimkehren konnten.“ – Das trifft es exakt. Tügels Protagonisten kommen zerstört aus dem Krieg in eine innerlich zerstörte Heimat, heimkehren aber können sie nicht, denn das, was Heimat war, gibt es nicht mehr und auch den Menschen, der einst auszog, gibt es nicht mehr. Selbst in seine Gestaltung historischer Stoffe, die er selten wählte, spielt dies z.T. hinein, etwa in „Auf der Felsentreppe“ (1943/44; in der gleichnamigen Sammlung 1947)), wo zwei napoleonische Soldaten nicht heimfinden können.
Auch die Frauengestalten Tügels sind jedoch entwurzelt und in einem ähnlichen Sinne heimatlos. Elisabeth Zamell ist hier nur ein Beispiel unter vielen. Diesen Frauentypus hat Tügel oft gestaltet, der seinen vom Krieg zerstörten, nicht mehr heimkehren könnenden Heimkehrern ebenso zerstört gegenübersteht. Es sind kluge, selbständige, meist auch sympathische Frauengestalten, deren Zerrissenheiten sie unberechenbar und oft verhängnisvoll machen für die, die ihnen begegnen, aber ebenso auch für sich selbst. Elisabeth Zamell hat dabei durchaus femme-fatale-Züge; die Verlobte Luise Bretum in der Erzählung „Die Treue“ mutet mehr wie eine im Irrsinn versinkende, hilflos-liebliche und doch auch rücksichtslose Ophelia an; die Schwestern „Regan“ und „Goneril“ in der höchst bemerkenswerten Erzählung „König Lear auf der Mole“ teilen sich diese beiden Rollen auf ihre Weise; und die Titelheldin in der kurzen Erzählung „Die Ohnseitige“ ist auf ganz eigene Weise erschütternd, faszinierend und unvergeßlich. Zerbrochen, zerstört laufen diese Frauen mit durch die Zeit. Sie sind auf ihre je ganz eigene Weise selbstbewußt, unabhängig, selbständig, aber ihre Zerstörungen stehen immer dahinter und es ist kein tragfähiges, sie haltendes Gesellschaftsgefüge mehr da – teils, weil es sich historisch mit dem Weltkrieg auflöste, teils auch, weil sie sich – Tügels männlichen Protagonisten ähnlich – unabhängig selbst aus diesem gelöst haben. Oft sterben diese Frauen schließlich (etwa Elisabeth Zamell, die „Regan“ im „König Lear auf der Mole“) oder zerbrechen endgültig (wie Luise Bretum, die im Irrsinn untergeht, oder die „Ohnseitige“). Auch den bisweilen noch recht expressiven Roman „Sankt Blehk oder die große Veränderung“ (1934), der seine Schwächen hat, durchzieht ein Reigen solcher Frauengestalten, dem positiv Wega tom Daile gegenübersteht – hier muß nun allerdings auch diese sterben, die dem Protagonisten, einem typischen, nicht heimkehren könnenden Heimkehrer Tügels, eine positive Perspektive bot. Der Tod ist hier sicher nie die Lösung der Probleme, aber wohl oft die letzte, die einzig mögliche Konsequenz, die dem Erzähler Tügel bleibt. In „Sankt Blehk“ z.B. bewährt sich zwar schließlich die zunächst unmöglich scheinende Gemeinschaft zwischen Bauern und Arbeitern, zwischen Stadt und Land, verfeindete Parteien söhnen sich aus, worin sicher Tügels zeitweilige Hoffnung auf die „Volksgemeinschaft“ der Nationalsozialisten einen Ausdruck findet, aber das Individuum bleibt zuletzt dennoch heillos zurück.
Läßt man den Blick über Tügels Personal gleiten, so muß man feststellen, vor einer ganzen Heerschar von Gestalten zu stehen, in denen allen innerlich irgendein Rädchen entzweigebrochen ist – allesamt Nachfahren des Hoffmannschen „Rat Krespel“…
Tügel ist nicht müde geworden, diesen Zerstörungen nachzuspüren, auf unterschiedliche Weise, in individuellen Einzelschicksalen und bisweilen auch mit einem eigenwillig-kauzigen Humor, der aber eben ganz jener E.T.A. Hoffmannsche Humor ist, „der nur aus dem tief bis auf den Tod verletzten Gemüte kommt“. Wenn die Kritik ihn gelegentlich als norddeutschen Humoristen einschachtelt, so benennt das zwar durchaus richtig einen Aspekt seines Schaffens, zeugt aber, als Generalnenner verwendet, von Unkenntnis des Werks oder völligem Fehlen jeder Sensibilität gegenüber dichterischen Texten.
Tügel übrigens glaubte, wie bereits angedeutet, zeitweilig offenbar auch an eine „Heimkehr“ mittels des Nationalsozialismus. Er übernahm 1933 ein regionales Amt in der Reichsschrifttumskammer (das er jedoch schon 1934 niederlegte); er schrieb vor allem die sehr unerquickliche Erzählung „Der Brook“ (1938; in Fortsetzungen 1937 vorabgedruckt in der renommierten Zeitschrift „Das Innere Reich“ und damit besonders sichtbar), die man gerne verschweigen würde; er lieferte noch 1940 zum Weimarer Dichtertreffen einen Redebeitrag „Die Dichtung als Gestalterin volkhafter Lebensordnungen“ (gedruckt in: „Die Dichtung im Kampf des Reiches. Weimarer Reden 1940“ Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt1941, S.35-51). Was man sonst in seinen Büchern findet, soweit ich sie kenne, ist damit schwer auf einen Nenner zu bringen. Aber Tügels Verhältnis zum Nationalsozialismus, zum Dritten Reich ist völlig unerforscht. Über ihn existiert lediglich eine kleine Studie „Der Erzähler Ludwig Tügel“ (1964) des kundigen Heinz Stolte - und selbst diese ist nur der Separatdruck eines Vorworts zu einer Erzählungenauswahl und liefert nur wenig Biographisches; ähnlich wie Thomas B. Schumanns wichtiges Nachwort zu seiner Neuausgabe der „Treue“ (1986), kann sie dieses Problem naturgemäß auch kaum mehr als streifen. Weiter liegt meines Wissens nichts Gründliches vor. Es könnte einen das nackte Entsetzen packen, wäre man in dieser Hinsicht nicht aus Gewohnheit längst abgestumpft... Hier wäre eine Modellstudie möglich, die der Frage nachgehen könnte, was einen intelligenten, integer wirkenden und einzelgängerisch-unabhängigen Geist, der zugleich einer der großen Erzähler des 20. Jahrhunderts ist, zeitweilig am Nationalsozialismus fasziniert hat.
Vielleicht spielten persönliche Verbindungen hier eine Rolle? Sein Bruder Franz gehörte als Bischof in Hamburg zu den NS-hörigen „Deutschen Christen“; freilich scheint mir der Kontakt zu diesem Bruder nicht sehr eng gewesen zu sein. Eher spielte vielleicht eine enge Freundschaft hier eine Rolle, nämlich die mit dem Maler und Schriftsteller Carl Emil Uphoff (1885-1971), der offenbar ein enthusiastischer Nazi gewesen zu sein scheint (s. seinen Gedichtband „Ruf zur Entscheidung“ (o.J.; [1943/44?]; geschrieben 1937). War es die Sehnsucht nach Heimkehr, nach Restituierung einer heilen, als irgendwie diffus organisch empfundenen Gesellschaft? Oder auch die Sehnsucht nach Erlösung aus der Einsamkeit des Künstlers in der Moderne? Sehnsüchte, die offenbar gerade in den Zwanziger Jahren viele Künstler nach Links- oder Rechtsaußen abdriften ließen. Der erwähnte Weimarer Redebeitrag weist durchaus in diese Richtung.
Ludwig Tügels Nachlaß liegt im Deutschen Literaturarchiv Marbach bereit; gibt es keine interessierten, klugen Menschen mehr, die promovieren wollen? – Ach, Verzeihung, ich vergaß: wir haben das Studium ja abgeschafft. Wir verkürzen die Schulzeit und überfrachten sie zugleich mit allem Möglichen und Unmöglichen; dafür degradieren wir dann das Studium zur verplanten Schulzeit und verhindern jeden freien Blick über das Pflichtprogramm hinaus. Wir haben das Verblöden zur Staatsraison gemacht, neben den Bemühungen um die Abschaffung der Demokratie zur wohl einzigen, die ziemlich parteienübergreifend getragen wird…
Vielleicht verdienen wir Tügel wirklich nicht mehr. Verzeiht mir meinen Zorn. Er ist nötig. Wir sind eben keine Kulturnation. Wir haben keine Kultur und wollen offenbar keine haben. Reichen „Dschungelcamps“ und „DSDS“ wirklich aus…?
Den Ursachen dieses bitteren Befundes aber wäre für behutsame, kluge Leser wohl nicht zuletzt bei Tügel nachzuspüren.

Es gibt sie ja, diese Leser, es gab sie, gibt sie, wird sie geben. Daran glaube ich unverdrossen. Und dafür – nicht wahr? – leben wir.


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