"Manchem schwinden schon die Sinne..." - Wolfgang Schiffer und Johann P. Tammen stellen den Lyriker Albert Vigoleis Thelen in "seiner" Stadtbibliothek Viersen vor
"Ein Bunterkunt und Kunterfei verneint die Welt en gros, nicht en detail" - Lebens- und Werkspuren des Dichters Albert Vigoleis Thelen, vorgestellt von Wolfgang Schiffer und Johann P. Tammen in der Albert-Vigoleis-Thelen-Stadtbibliothek Viersen am 109. Geburtstag Thelens (28.9.2012)
Danke! Danke! Danke!, möchte ich sagen, nein, muß ich sogar sagen.
Schon daß die Albert Vigoleis Thelen-Stadtbibliothek seit bald zehn Jahren Thelens Geburtstag feiert, ist ein feiner Zug. Das sollte selbstverständlich sein, ist es aber natürlich beileibe nicht und daher muß man sagen und sagt man gerne: Danke! und: Weiter so! Nicht nachlassen! Auch wenn Dr. Pauly vom Heimatverein einleitend schön auf die Ambivalenz solcher Festveranstaltungen hinwies, die Thelen gewiß nicht ohne sarkastische Ironie erlebt hätte, aber wohl auch nicht ohne eine gewisse Genugtuung und Freude. Und das ist sicher zutreffend.
Besonders schön ist freilich, daß dieses Jahr Thelens Lyrik im Zentrum stand. Richtig wiesen die Vortragenden darauf hin, daß die großen Lyrik-Anthologisten Thelen weitgehend ignorierten, von von Wiese über Höllerer bis zu Conrady fischten sie mit Netzen, denen Thelen durchging. Und doch ist Thelens Lyrik von höchstem Rang, was Schiffer und Tammen mit klug ausgewählten Gedichtproben zu beweisen wußten, ergänzt um Thelen'sche Selbstaussagen und Stimmen der Literaturkritik, kluge ebenso wie törichte.
Der Claassen Verlag ist berühmt für sein Thelen-Engagement - zu Recht berühmt dafür (und nicht nur dafür). Daß dieses Engagement 1979 mit Thelens gänzlich abseitiger Lyrik seinen Anfang nahm, mit dem Sammelband "Im Gläs der Worte", ist dagegen weniger bekannt.
Immerhin dies habe ich mit dem Claassen Verlag gemein: mein Einstieg in die "terra Vigolotriarum" war seine Lyrik, war der Band "Im Gläs der Worte", den ich während meiner Studienzeit 1996 im Lager eines nebenberuflichen Antiquars in Viersen aufgegabelt hatte. Erst viel später kam ich auch in den Genuß seiner Prosa. Ich weiß nicht, ob ich der Einzige bin, dem das so gegangen ist - viele Gefährten dürfte ich aber wohl auf diesem Weg nicht haben... Daß diese Gedichte etwas Besonderes, etwas Hochrangiges waren, das habe ich damals gleich gemerkt.
Aber zum Thelen-Abend:
Ein Zitat von Heinz Piontek bezeugte dessen respektvolles Befremden, seine respektvolle Ratlosigkeit: fremd schienen ihm die Gedichte Thelens, exzentrisch, voller Archaismen, wenn nicht sogar manieriert oder gestrig; als Vergleichsgröße führt er Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder an - und warum nicht? Ich wäre wohl nie auf diesen Gedanken gekommen, aber er ist alles andere als abwegig: denkt man an Borchardts Bemühen, Dante in ein fiktives Mittelhochdeutsch zu übertragen, nach- und neuzudichten, denkt man an seine Anti-Nazi-Jamben und ihre heftige, selbst fäkale Derbheit, denkt man bei Schröder auch an dessen humorige Seite, etwa im Band "Hama", an den vorkirchlichen Schröder sozusagen: ja, diese Assoziation ist alles andere als abwegig! Wolfgang Schiffer schien der Gedanke an Johann Fischart naheliegender; gewiß auch nicht von der Hand zu weisen - eins schließt das andere glücklicherweise nicht aus...
Richtig sagte Tammen, Thelen sei "zweifellos Traditionalist", aber das sei ja kein Schimpfwort. Nein, keineswegs. Der Hinweis auf die "komplexe Rezeptionsgeschichte" Thelens, die für so viele seiner Zeitgenossen gleichermaßen gilt, läßt sich leicht erweitern auf die gesamte, ungemein reiche Lyriklandschaft in deutscher Sprache von der Jahrhundertwende bis in die sechziger oder siebziger Jahre. Anthologien, Literaturgeschichten und die Literaturwissenschaft haben vor diesen Reichtümern weitgehend kapituliert - eine schöne Ausnahme ist jüngst Wulf Kirstens riesige Arche "'Beständig ist das leicht Verletzliche' Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan" Zürich: Amann 2010, der in ihre über 1100 Seiten auch Thelen zu bergen wußte.
Wie komplex auch "traditionalistische Gedichte" sein können, die ja wesentlich Formkunst sind (aber Dichtung ist immer Formkunst, auch wenn Krethi und Plethi das heute nicht immer weiß), zeigte der Vortrag von Thelens Gedicht "Wünschelgang", das nicht gerade leicht vorzutragen ist.
Die Aufforderung, es solle mal jemand seinen Schreibtisch aufräumen, die Ärmel hochkrempeln, Thelens Gedichte sichten und eine ordentliche Auswahlausgabe zusammenstellen, ist richtig, erfährt von hier aus meine bescheidene, aber volle Unterstützung und könnte auch dazu beitragen, hier Abhilfe zu schaffen. Gäbe es freilich einen Verlag, der dieses Projekt verwirklichen würde?
Die kritischen Stimmen, von Siegfried Lenz über Werner Helwig, den Genfer Bekannten der Thelens, Hermann Wallmann, Werner Jung, Anton Krättli bis zu Michael Thelen stützten ein solches Unterfangen letztlich, wenn auch bisweilen nicht uneingeschränkt. Einzig Karl Schwedhelm, selbst ein begabter Lyriker, hatte in der FAZ offenbar wenig Löbliches an diesem Lyriker gefunden, unterstellte Thelen, sich "verstaubten Wortbrokat" umzuwerfen und resümierte schließlich, er habe etwas gegen Gedichtbücher, für deren Lektüre man ein Wörterbuch brauche. Der Einwand ist an sich nicht völlig von der Hand zu weisen, doch in seiner Konsequenz müßte man auch beträchtliche Teile der Gottfried Bennschen (Menschen! [Hallo, Herr Rühmkorf und Danke für diesen Reim - endlich!]) Lyrik einsargen...
Sicher schadet es nicht, bei der Thelen-Lektüre einen Grimm zur Hand zu haben - und den hat nun sicher nicht jeder eben mal so zur Hand. Das ist schade. Aber das nimmt seinen Gedichten nicht ihren Wert. Der Leser darf sich ein Gedicht durchaus auch gegen Widerstände erobern müssen (man denke etwa an den bedeutendsten modernen Lyriker deutscher Sprache, an Stefan George und sein Werk und die gezielt von ihm gelegten "Rezeptionshemmnisse"!). Und diese Hemmnisse sind nun bei Thelen keineswegs omnipräsent. Hier greift Schwedhelm souverän daneben, nun ja, das passiert (und über seinen "verstaubten Wortbrokat" [hat der das ernst gemeint?] , peinlich, breiten wir milde den Mantel des Schweigens).
Auch Thelens Humor kam zu seinem Recht, mit einer klugen Selbstaussage gegenüber der Dülkener Narrenakademie 1967 und in Gedichten wie "Kleine Melancholie" oder "Bunterkunt und Kunterfei", letzteres im allerbesten Sinne in Morgensternscher Sohnschaft stehend.
Immer oder fast immer ist Thelens Humor dunkel grundiert, nicht selten ist er Galgenhumor - insofern ließe sich durchaus auch von Thelen sagen, er habe "Galgenlieder" geschrieben...
Auch in einem Gedicht wie "Letzter Wille", einem thematisch im buchstäblichen Sinne "toternsten" Gedicht also, das mit den unvergesslichen Versen beginnt: "An meinem Grabe will ich keine Tränen, / Die hab' ich alle selber schon geweint.", schlägt Thelens Humor eigenartige Kapriolen: nachdem Rühmkorf den Reim auf Menschen gefunden hat (s.o.), macht sich Thelen hier seinen Reim auf Nietzsche: den reimt er einfach kurzerhand auf seine Beatrice, die - Insider wissen natürlich Bescheid - etwa "Beatrietsche" gesprochen wird. Mir kommt da ein dunkler Verdacht: als er in den zwanziger Jahren die junge, hübsche, kluge, tapfere und obendrein auch noch reiche Schweizerin als studentischer Mitarbeiter bei der "Pressa" in Köln kennen lernte - ob er da nicht gleich dachte: Beatrice? Dante? Dante G. Rossetti? Nö, nicht Beatrize, nicht Beatries, nein: Beatrietzsche - die brauch ich, die hat mir gerade noch gefehlt - als Reimwort auf Nietzsche, wer weiß, wann man's brauchen kann... Ein dunkler Verdacht, ja, aber zuzutrauen wäre es ihm (und immerhin sammelte Beatrietzschens Bruder Zwingli Schimpfwörter in allen Sprachen, warum also Vigo nicht Reimwörter mit den diesen gegebenenfalls anhaftenden Damen...? Hm...). Ich schweife ab, daran wird wohl Thelen schuld sein... digressives Erzählen usw., jaja.
Natürlich sind nicht alle Gedichte Thelens "Volltreffer"; das kann keiner; seine "Eieruhrgedichte" etwa habe ich als eher mäßig in Erinnerung, werde aber noch mal nachlesen. Insgesamt jedenfalls ist die Dichte seines lyrischen Werks überdurchschnittlich hoch. Eine Selbstaussage von ihm bezeugte, er habe mit 15 erste Gedichte geschrieben, "Pubertätsgedichte", aber nicht nur "Pubertätsgedichte"; dann habe er gelesen und gelesen und gelesen und sich weitergebildet und sei schließlich hart geworden im Wort. So läuft das wohl in der Regel, ja. Gundolf meinte ja mal, wer mit 14-21 nicht Gedichte mache und verliebt sei, mit dem sei nichts los; wer mit 21-28 noch Gedichte mache, auf den müsse man Acht geben; wer nach 28 noch Gedichte mache, das seien die Dichter.
Ziemlich gegen Schluß folgte dann ein kurzes Gedicht , das m.E. auch einer seiner ganz großen Würfe ist - ich finde es gerade nicht, aber ich glaube, ich kann's inwendig:
Dichter sind die Büchsenöffner
ihrer Innenwelt.
Manchem schwinden schon die Sinne,
wenn der Deckel fällt.
Ob da die von Schwedhelm monierten wörterbuchbedürftigen Wörter vielleicht eine Art Sicherheitsgurt darstellen, der den unbedarften Leser vor Schwindel und Sturz bewahrt?
Schiffer und Tammen jedenfalls haben den Deckel ein wenig gelupft, ohne Scheu; unter ihren Gedichtproben fand ich alte Lieblinge ebenso wie völlige Neuentdeckungen - und das ist wohl die ideale Mischung. Und ich werde einmal wieder mehr in Thelens Gedichte schauen, was ich sträflich lange nicht getan habe.
Also: Danke! Danke! Danke!
Und: da capo!
Wem nicht schwindelt, wer schwindelfrei ist oder gerne schwindelt, also versucht sein könnte, weitere Vigolotria zu treiben, sei auf die entsprechende Homepage verwiesen: