Ralf Gnosa freier Schriftsteller und Literaturwissenschaftler


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Anthologieprojekte

Anthologieprojekte
Wasserleichen-Lyrik - Raben-Gedichte - Eisenbahn-Gedichte - Stefan George - Lyrik der Jahrhundertwende

Die folgenden Anthologieprojekte werden z.T. seit vielen Jahren sammelnd verfolgt; verlegerisches Interesse wäre höchst willkommen und würde wohlwollend geprüft. Auch Hinweise auf Gedichte werden natürlich gerne angenommen.


Wasserleichen-Lyrik

Wasserleichen-Lyrik? - Da mag wohl mancher die Stirn runzeln oder auch schlicht und einfach nur denken: "Hä?"
Und doch ist das Thema weniger abseitig als es scheint und hochinteressant dazu.
Wohl jeder kennt die einschlägigen Beispiele aus der bildenden Kunst, etwa die präraphaelitischen Ophelien; jeder kennt wohl auch die Ophelien von Rimbaud und Georg Heym oder Benns "Kleine Aster" und ihre Artverwandten. Wie häufig das Thema in der klassischen Moderne jedoch gestaltet wurde und wie vielfältig diese Gestaltungen ausfallen, das hingegen ist im allgemeinen Bewußtsein wohl nicht vorhanden. Die Gestaltungsweise auf den sozialen, anklägerischen Aspekt hin ist etwa im Naturalismus und Expressionismus, ebenso aber in der sentimentalen Epigonenlyrik zu finden, daneben steht eine neuromantisch-symbolistische Richtung, die an dunklen, stillen Weihern gerne einen der Schwermut geschuldeten Suizid inszeniert - der sanfte Tod im weichen Wasser im Kontrast zum verzweifelten Tod im bitterkalten Wasser der Hungernden oder der verführten und verlassenen, schwangeren Mädchen in der erstgenannten Gruppe. Auch die Lust am Makabren, Grausigen und Ekligen, das bewußte Einsetzen von Schockeffekten spielen in unterschiedlichen Ausprägungen natürlich ihre Rolle. Dazu gesellen sich Gedichte auf tatsächlich oder legendär ertrunkene (z.B. Sappho, Li-Tai-Pe, Georg Heym) oder doch als Wasserleiche aufgefundene (Rosa Luxemburg) historische Persönlichkeiten oder die seit den 20er/30er Jahren wie Pilze aus dem Boden schießenden Gedichte auf die "Inconnue de la Seine" und ihre Totenmaske. Nicht zuletzt ist an den Fundus in der Balladendichtung zu denken, an Seemanns- und Fischertode, Sturmfluten, aber auch an solche Balladendichtungen wie Goethes "Der Fischer". - Es öffnet sich hier also ein ungemein weites Feld...
Man kennt vielleicht die Beiträge von Rimbaud, Heym und Benn; wer aber kennt die von A.K.T. Tielo, Hans Bethge, Ernst Balcke, Friedrich Schnack, Hans Lebert u.v.a.? - Und wer weiß, daß selbst Stefan George zwei Beiträge zum Thema geliefert hat?
Wissenschaftliche Vorarbeiten gibt es durchaus, die sich freilich meist auf Ophelia konzentrieren: u.a. hat sich Bernhard Blume in Aufsätzen dem Thema gewidmet, Jürg Peter Rüesch promovierte über "Ophelia. Zum Wandel des lyrischen Bildes im Motiv der 'navigatio vitae' bei Arthur Rimbaud und im deutschen Expressionsmus" (Zürich 1964), Hanspeter Zürcher schrieb über "Stilles Wasser. Narziß und Ophelia in der Dichtung und Malerei um 1900" (Bonn: Bouvier 1975) und zuletzt legte Frauke Bayer eine umfängliche Studie vor: "Mythos Ophelia. Zur Literatur- und Bild-Geschichte einer Weiblichkeitsimagination zwischen Romantik und Gegenwart" (Würzburg: Ergon 2009; Diss. Erlangen 2008) und gestaltete in der Universitätsbibliothek Erlangen 2010 eine kleine, feine Ausstellung zum Thema. Seit über zwanzig Jahren warte ich darauf, daß jemand Ernst Balcke entdeckt - die Verfasserin hat's getan! Danke!
Anthologisten haben sich allerdings noch nicht an das Thema gewagt, lediglich Martin Sommerfeld scheint das entsprechende Potenzial dieses Sujets gesehen zu haben und stellte in seiner Anthologie "Deutsche Lyrik 1880-1930 nach Motiven ausgewählt und geordnet" (Berlin: Junker u. Dünnhaupt 1931) immerhin sieben Gedichte zu einem Kapitel "Ophelia" zusammen.
Für dieses Anthologieprojekt sind inzwischen über 280 Gedichte von etwa 190 Autoren vorhanden.


Raben-Gedichte

Raben im Gedicht - da wird wohl jeder zunächst an Poes grandioses Gedicht "The Raven" denken. Allein mit deutschen Nachdichtungen dieser singulären Dichtung wäre schon eine stattliche Anthologie zu befüllen. Aber auch über Poe hinaus haben diese schwarzen, höchst klugen und sympathischen, oft jedoch auch als unheimlich empfundenen Vögel die Dichter fasziniert - nicht nur Odin und Apolllon schätzten die Gesellschaft der Raben. Dennoch tritt der Rabe in älterer Dichtung selten auf, ist dort sozusagen nur gelegentlich in der Fabel zu Gast. Aber seit 1800 gewinnt er mehr und mehr die Aufmerksamkeit der Lyriker - neben Poe auch bei Puschkin, Lenau, Fontane, später häufig bei Max Dauthendey, Christian Morgenstern, Ernst Bertram, Georg Britting u.v.a. Die sehr unterschiedlichen Gestaltungen sind ebenso reizvoll wie ihr Gegenstand - sei es nun der Rabe als Symbol, als Versatzstück in der Landschaft, der Gesang des Raben (ja, Rabenvögel gehören in der Tat zu den Singvögeln; wer ihnen je aufmerksam zuhörte, weiß auch warum...), der Rabe als Unglücks- oder Galgenvogel und Aasfresser oder als Wintervogel: wie oft hat der Kontrast zwischen den schwarzen Vögeln und der weißen Schneelandschaft die Dichter inspiriert...
Es ist höchste Zeit, daß der Rabe seine Anthologie erhält! Besingen wir diesen aparten Singvogel - und widerlegen wir Georg Britting, der so oft Raben und Krähen in seinen Gedichten verwendet, aber einmal schreibt: "Und nur den Raben bringt niemand zum Singen" - nein, hier irrt Britting! Ein ganzer Rabenchor nämlich hält sich bereit: für diese Anthologie liegen nun rund 260 Gedichte von ca. 190 Autoren vor.


Eisenbahn-Gedichte

Das Sammeln von Eisenbahn-Gedichten ist eine Sisyphos-Arbeit und es liegen hierzu immerhin bereits einige Anthologien vor, etwa die von Franz Swoboda: "Das eiserne Leben" (Heilbronn: Erich Kunter 1926) oder Wolfgang Minaty: "Die Eisenbahn. Gedichte - Prosa - Bilder" (Frankfurt a.M.: Insel 1984) und von demselben: "Bitte einsteigen! Die schönsten Eisenbahn-Gedichte" (München: dtv 2010), aber auch die einschlägigen Großstadtlyrik-Anthologien des 20. Jahrhunderts bieten in der Regel viele Beispiele.
Warum also noch eine Eisenbahn-Anthologie? - Nun, die Zahl der Texte ist einfach Legion...
Seit dem späten 19. Jahrhundert ist die Eisenbahn fest im Kanon lyrischer Sujets etabliert. Ob es nun die Bahnfahrt, die Reise als solche ist, die Lokomotive als technische Urgewalt oder der Bahnbau als unmenschliche Strapaze, die Tätigkeiten der verschiedenen Bahnbeschäftigten oder Unglücksfälle und Schicksalsschläge, die kleineren Geschwister wie U- und Straßenbahn oder der Bahndamm als völlig neuartiger, halb-natürlicher Lebensraum, der Wartesaal oder auch der Bahnhof selbst als Ort von Ankunft und Abschied, von Trennung und Begegnung, Fern- und Heimweh, als Ort sozialen Lebens zwischen Hektik und Ruhe, Vergnügungsreisenden und Obdachlosen... Das Sujet erscheint in der Dichtung nicht weniger vielgestaltig als in der Wirklichkeit, bietet Perspektiven in alle und Wertungen aus allen Richtungen - von der Trauer über den Verlust der "guten, alten Zeit" bis zur enthusiastischen Technik- und Fortschrittsbegeisterung. Hinzu kommen die historisch konnotierten Gedichte, die die Bahn im Krieg zeigen: Soldatenzüge, Deportationstransporte in die Massenvernichtung oder Flüchtlingszüge.
Der Fundus ist unerschöpflich - von Chamisso, Fontane, Liliencron, Julius Hart über Benn, Engelke u.v.a. bis zu Manfred Hausin, der gleich einen ganzen Band Bahnhofsgedichte vorgelegt hat. Für diese Anthologie stellt die Materialfülle geradezu das zentrale Problem dar - das Vorhandene könnte sogleich publiziert werden und ergäbe schon einen stattlichen und doch zugleich extrem fragmentarischen Band; ebenso könnte man ewig weitersammeln und käme an kein Ende. Und Folgebände ad ultimo wären auch eine Option...
Zur Zeit liegen knapp 600 Gedichte von etwa 400 Autoren vor, wobei z.B. die bereits vorhandenen Anthologien hierfür noch gar nicht systematisch ausgewertet worden sind.


Stefan George im Gedicht

Stefan George ist der bedeutendste und einflußreichste deutsche Lyriker der klassischen Moderne, des 20. Jahrhunderts, er hat, wie es Wulf Kirsten 2011 auf der Tagung der Stefan-George-Gesellschaft treffend formulierte, "in zehn Jahren die deutsche Lyrik revolutioniert." Seine Wirkung kann kaum überschätzt werden. Ernst Klett resümierte ebenso treffend im Nachwort seiner George-Auswahl 1983: "[...] ohne George wären die 'Duineser Elegien' so nicht gedichtet worden. Daß wir in Deutschland in den ersten fünfzig Jahren des Jahrhunderts noch eine späte Blüte der Lyrik erleben durften, ist ein Geschenk. Gewiß ist Stefan George nicht allein der Schenkende, aber er ist die Voraussetzung."
Insofern verwundert es nicht, daß die Kollegen sich nicht nur lesend und rezipierend oder poetologisch-reflektierend und theoretisch mit ihm auseinandergesetzt haben, sondern auch dichterisch. Dabei handelt es sich ebenso um Widmungs- und Huldigungsgedichte der Jünger oder Möchtegern-Jünger wie um poetologische Zitate, um Nekrologe und Gedenkgedichte oder auch um Parodien. Diese Anthologie soll weder auf Adoranten noch auf Kritiker Georges beschränkt sein, sie soll vielmehr das gesamte Spektrum dichterischer George-Rezeption abdecken.
Dieses Anthologie-Vorhaben steht noch sehr am Anfang. Unbedingt wären hier auch noch Archivrecherchen notwendig, mindestens im Stefan-George-Archiv Stuttgart und im Deutschen Literaturarchiv.
Ein Grundstock von etwa 80 Gedichten von rund 45 Autoren liegt vor, weitere Quellen sind aufgetan und ein beträchtlicher Zuwachs steht mit Sicherheit noch zu erwarten.


"Trunken von Trauer, Schönheit und Tod" - deutschsprachige Lyrik der Jahrhundertwende (Arbeitstitel)

Diese Anthologie befindet sich lediglich im Planungsstadium, liegt mir aber besonders am Herzen.
Auf Grund meiner Sammelleidenschaft für die Dichtung der Jahrhundertwende und der Vielzahl völlig verschollener Autoren und Werke, die einem dabei zwangsläufig immer wieder begegnen, möchte ich gerne ein paar dieser Schätze heben, gewissermaßen eine Bresche durch diese Jahre schlagen und deren Reichtum von den 1890er Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, der einen markanten und unwiderruflichen Bruch bedeutet, auswählend präsentieren.
Hinzu kommt, daß diese Jahre nicht nur eine uneingeholte Blütezeit der Lyrik markieren, sondern ebenso sehr eine Blütezeit der Buchkunst, sodaß viele Bücher von der Einband- und Titelgestaltung, von Illustrationen, Vignetten, Zierleisten, Typographie und Satzanordnung usw. her wirkliche Kunstwerke sind. Nie war das Buch so sehr sinnliches Ereignis und Erlebnis wie in dieser Zeit und nicht selten waren Lyriker zugleich Buchgestalter in einer Person - man denke an Emil Rudolf Weiss oder Heinrich Vogeler, um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen. Auch diesem ästhetischen Aspekt müßte die Anthologie Rechnung tragen.
Um den Rahmen einer Anthologie nicht zu sprengen, wäre hier auf die ganz Großen zu verzichten, auf George und Rilke, eventuell auch auf Hofmannsthal, Liliencron und Dehmel, die für die Kleineren natürlich Anregung und Ausrichtung bedeuten, jedoch in Werkausgaben zugänglich und in jeder deutschen Lyrikanthologie zu finden sind. Diese anthologische Arche soll vielmehr unbekannte Reichtümer enthüllen und die Schar der poetae minores in ihren besten und zeittypischen Stücken sichtbar werden lassen, im Rahmen solcher Stilbegriffe wie l'art pour l'art, Ästhetizismus, Neuromantik, Dekadenzdichtung, Nervenkunst, Impressionismus, Symbolismus etc. Der lyrische Kanon würde von diesen Reichtümern sehr profitieren...
Die Anthologie könnte ebenso nach Autoren gegliedert werden, wie auch nach Themen und Sujets dieser Zeit, also etwa Pierrot, Rokoko, Parks und Gärten, Schwäne, Engel, Weiher und Teiche, Page und Herrin, Femme fatale und Femme fragile, Stimmungen, Schwermut, Landschaften (locus amoenus vs. locus terribilis), Eros und Thanatos, Müdigkeiten, Schwüle, Langeweile und taedium vitae, Bezüge zur Kunst (Böcklin, Klinger, Präraphaeliten, Watteau usw.) und Musik, Tageszeiten, Jahreszeiten, Blumen und Pflanzen (Orchidee, Trauerweide, Zypresse usw.), antike Gestalten (Orpheus, Narziss, Leda, Nymphen, Pan usw.) und Archetypen (Priester/Priesterin, Mänade), Badende, Absynth, Rausch und Drogen (Haschisch, Opium, Morphium), aber auch die Anfänge einer Großstadtästhetik - es öffnet sich, hier willkürlich, unsystematisch und unvollständig in Beispielen benannt, ein weites und reiches Feld an Motiven!
Mir scheint eine Anthologie dieser Art sehr, sehr notwendig. Und vor allem: äußerst reizvoll...



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